Entstehung, Textträger, Drucke
Die Entstehung von Thomas Bernhards autobiografischer Erzählung "Wittgensteins Neffe.
Eine Freundschaft" wird in dem 2008 erschienenen Band der
Werkausgabe1 ausführlich dokumentiert. Dort ist festgehalten, dass es auf Palma de Mallorca, wo sich Bernhard vom 25.
Jänner bis 14. März 1982 aufhielt, im Februar zu einer Begegnung mit seinem Verleger Siegfried
Unseld kam. Dabei wurde ein 'Publikationsplan' erstellt, der an erster Stelle "Beton", an
zweiter "Wittgensteins Neffe" vorsah.2 Ein Textindiz –
der Hinweis auf "Jännerkälte und Jännerleere" (S. 133) – lässt darauf schließen, dass der
Entstehungsprozess damals bereits begonnen hatte. Eine handschriftliche Notiz aus dem
Nachlass3 gibt wiederum den 10. März 1982 als
Datum der Beendigung an. Als Entstehungszeit des Textes können daher etwa neun Wochen
gelten, von Anfang 1982 bis zum genannten Märztermin.
Zunächst entstand eine erste Typoskriptfassung (AT-OeAW-TB-1-101-2-0). Für mehrere Passagen hat Bernhard
dabei auf schon vorliegende 'Textbausteine' zurückgegriffen,
so auf das vermutlich 1980 entstandene Konvolut "Meine Preise"4; die Darstellung der Verleihungen des Grillparzer- und des
Österreichischen Staatspreises (vgl. S. 105–118) hat dort ihre Vorstufen.5
Die Weiterarbeit belegen zwei 'Fragmente', ein Typoskript (AT-OeAW-TB-1-101-3-0) zur Uraufführung
der "Jagdgesellschaft" (vgl. S. 153–160) und eine erhaltene Typoskriptseite (AT-OeAW-TB-101-4-0) zur
Schreibsituation in "winterliche[r] Kälte und Leere" (vgl. S. 133).
Diese Textstufen gehen dann in die zweite Typoskriptfassung (AT-OeAW-TB-1-101-5-0) ein, die im Vergleich zur
ersten mit bestimmten biographischen Details sparsamer umgeht und etwa konkrete Namensnennungen entfallen lässt.
Auf seine Freundschaft mit Paul Wittgenstein hatte Bernhard bis dato in Notizen6
und brieflich Bezug genommen. Deutlich wird dabei die
Hochschätzung des Freundes: 1978 schilderte Bernhard in einem Brief an den Journalisten
Peter von Becker eine der typischen Eskapaden Paul Wittgensteins, "den ich sehr liebe,
weil er einen zügellosen, unheimlichen Verstand und eine recht hohe Intelligenz hat".7
Eine weitere Erwähnung erfolgte im Roman "Beton", dessen Entstehungsgeschichte mit
"Wittgensteins Neffe" verschränkt ist. Dieser Text war Mitte Februar 1982 fertiggestellt
und am 30. August des Jahres in Buchform ausgeliefert worden. Es ist nicht mehr zu
entscheiden, ob die Arbeit an der Erzählung in den Roman einfloss oder umgekehrt.
Jedenfalls legt auch "Beton" Zeugnis ab von Zuneigung und Bewunderung: "Niemand war so
gescheit wie er, keiner war so poetisch, so unbestechlich in allem", sagt der Protagonist
Rudolf in "Beton".8
Im Nachlass Thomas Bernhards sind sieben Textträger erhalten. Diese werden in zwei leicht vergilbten braunen Mappen aufbewahrt,
deren vordere Deckel Archivsignaturen9 sowie kurze Beschreibungen der einzelnen Konvolute
inklusive der Blattanzahl tragen.
Typoskript 1
Typoskript 1 (AT-OeAW-TB-1-101-2-0 / BL: NLTB W 23/2 [= SL 3.88]) umfasst 54 einseitig mit schwarzem Farbband
beschriebene Blätter. Sie befinden sich in einer leicht vergilbten grauen Kartonmappe, deren vorderer Deckel mit Archivsignatur und Blattanzahl beschriftet ist.
Eingelegt ist ein leicht vergilbtes weißes, mittig gefaltetes Blatt mit handschriftlichen Notizen Thomas Bernhards mit Bleistift und schwarzem Kugelschreiber recto
und verso. Die Blätter des Konvoluts sind handschriftlich von eigener und fremder Hand mit schwarzem Kugelschreiber oder Bleistift paginiert.
Das vergilbte Papier (210 × 297 mm) zeigt teilweise Überklebungen und Anstückelungen in Form von Papierstreifen (fixiert oder beweglich). Sofortkorrekturen
(Durchstreichungen mit Kreuzen, Einfügungen) wurden maschinschriftlich durchgeführt. Nachträgliche Korrekturen von eigener und fremder
Hand (Streichungen, Einfügungen und Korrekturzeichen im Text und an den Rändern) wurden mit Kugelschreiber (schwarz und rot), Bleistift und schwarzem Filzstift
vorgenommen.
Fragmente 1 und 2
Fragment 1 (AT-OeAW-TB-1-101-3-0 / BL: NLTB W 23/2a [= SL 54.18]) ist ein in einer grauen, leicht vergilbten Kartonmappe verwahrtes Konvolut von acht einseitig beschriebenen, von
eigener Hand mit Bleistift paginierten Typoskriptseiten. Die Mappe trägt die Archivsignatur, die Blattzahl und die Notiz "Typoskriptseiten" von den Archivaren. Bei den mit schwarzem Farbband
beschriebenen, vergilbten und gelegentlich fleckigen Blättern (210 × 297 mm) handelt es sich zum Teil um korrigierte Kopien aus dem Typoskript 1, und zwar aus der Passage zur Wiener Uraufführung
der "Jagdgesellschaft" (vgl. S. 153–160). Auf einer Seite findet sich eine Überklebung mit einem beweglichen Papierstreifen. Korrekturen erfolgten maschinschriftlich als Durchstreichungen und Einfügungen;
eine Seite trägt darüber hinaus Korrekturzeichen von eigener Hand mit Bleistift im Text und am linken Rand.
Fragment 2 (AT-OeAW-TB-1-101-4-0 / BL: NLTB W 23/2b [= SL 54.21]) besteht aus einer einzelnen Typoskriptseite in einer grauen, leicht vergilbten Kartonmappe mit Archivsignatur,
Blattzahl und dem Zusatz "Typoskriptseite" von den Archivaren. Das mit schwarzem Maschinenband einseitig beschriebene, vergilbte Blatt (210 × 297 mm) enthält eine alternative Formulierung zu S. 133
sowie eine Notiz von eigener Hand mit schwarzem Kugelschreiber.
Typoskript 2
Das Typoskript 2 (AT-OeAW-TB-1-101-5-0 / BL: NLTB W 23/3 [= SL 3.95]) wurde, wie auch vermutlich bereits das Typoskript 1, auf einer Reiseschreibmaschine
der Marke Olivetti10 mit schwarzem Farbband angefertigt. Es befindet sich in einer leicht vergilbten grauen Kartonmappe,
deren vorderer Deckel mit Archivsignatur, Blattanzahl und handschriftlichen Notizen mit Bleistift durch die Archivare versehen ist. Es handelt sich um 61 einseitig
beschriebene Blätter, die handschriftlich von eigener und fremder Hand mit schwarzem Kugelschreiber oder Bleistift paginiert sind.
Das Papier (210 × 297 mm) ist vergilbt. Mehrfach wurden Papierstreifen darüber geklebt oder angestückelt (mit Klebstoff oder Klebestreifen, fixiert oder beweglich);
dabei handelt es sich zum Teil um Kopien aus Typoskript 1 (24 Seiten ganzseitige Kopien, drei Seiten mit kopierten Ausschnitten). Wieder erfolgten Sofortkorrekturen (Durchstreichungen mit
Kreuzen, Einfügungen) maschinschriftlich. Nachträgliche Korrekturen von eigener und fremder Hand (Streichungen, Einfügungen und Korrekturzeichen im Text und an den Rändern) wurden mit
Kugelschreiber (schwarz, blau), Bleistift und schwarzem Filzstift angebracht.
Reinschrift
Die von Siegfried Unselds Sekretärin Burgel Zeeh maschinschriftlich angefertigte Verlagsreinschrift (AT-OeAW-TB-1-101-6-0 / BL: NLTB W 23/3a [= SL 54.11]) basiert offenbar auf Typoskript 2. Sie ist in
einer grauen, leicht vergilbten und bestoßenen Mappe verwahrt, deren vorderer Deckel Archivsignatur, Blattzahl und mit Bleistift geschriebene handschriftliche Notizen durch die Archivare aufweist. Das Konvolut umfasst 66 einseitig mit schwarzem Farbband
beschriebene Blätter, die von fremder Hand mit Bleistift paginiert sind; zudem verweisen maschinschriftliche Marginalien in Form von Zahlen auf die jeweilige Seite in Typoskript 2. Das Papier (210 × 297 mm) ist vergilbt
und hat teilweise umgebogene bzw. eingeknickte Ecken.
Das Typoskript enthält nachträgliche handschriftliche Korrekturen (Streichungen, Einfügungen, Korrekturzeichen) mit Bleistift und schwarzem Kugelschreiber von Thomas
Bernhard und von fremder Hand.
Nach dieser Verlagsreinschrift wurde der Text vom 28. Oktober bis zum 22. November 1982 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Fortsetzungen abgedruckt, allerdings mit einer
Absatzgestaltung, die weder im Typoskript vorgesehen war noch in der Druckfassung erhalten ist.
Druckfahnen
Die Druckfahnen (AT-OeAW-TB-101-7-0 / BL: NLTB W 23/4 [= SL 3.87]) sind ebenfalls erhalten und in einer vergilbten, leicht bestoßenen und verschmutzten grauen Kartonmappe aufbewahrt, die mit Archivsignatur und Blattanzahl versehen ist.
Die 85 querformatigen, von fremder Hand mit Bleistift paginierten, leicht vergilbten und fleckigen Blätter (297 × 210 mm) enthalten den Text im Spaltensatz sowie u. a. Tabellen mit technischen Daten und Druckereistempeln. Die Korrekturen
(Streichungen, Einfügungen und Korrekturzeichen) von eigener und fremder Hand wurden mit Bleistift sowie schwarzem und rotem Kugelschreiber angebracht.
Ein Vorabdruck von zwei, für die Charakterisierung von Paul Wittgenstein besonders wesentlichen Passagen (S. 37–45 und 94–98) war von der österreichischen Literaturzeitschrift "Freibord" vorgesehen gewesen. Das Erscheinen des betreffenden Heftes
27 (Jahrgang 7, S. 86–88) verzögerte sich aber bis Dezember 1982, so dass die Buchausgabe diesem "Preprint" schließlich vorausging.
Erstausgabe
In Buchform erschien "Wittgensteins Neffe" am 30. November 1982 als Band 788 in der Bibliothek Suhrkamp. In ein Exemplar der Erstausgabe11 hat
Bernhard noch einige Änderungen eingetragen. Dieses Exemplar befindet sich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (Sign. 1.765.900-B LIT MAG). Die Korrekturen
(Streichungen, Einfügungen und Korrekturzeichen) im Text und an den Rändern wurden von eigener und fremder Hand mit Bleistift und schwarzem Kugelschreiber vorgenommen;
die Vorsatzseite enthält darüber hinaus eine Auflistung der betreffenden Seiten von eigener Hand und zusätzliche Zeichen (Häkchen und Striche) fremder
Hand in Bleistift. Diese Korrekturen wurden in der dritten Auflage von 1983 übernommen.
1987 kam der Band als Taschenbuch (stb 1465) heraus. Seitens des
Suhrkamp-Verlags schätzt man, dass bis Ende 2020 insgesamt etwa 200.000 Exemplare verkauft wurden.12
Zur Rezeption
Zum fertiggestellten Text wurde Bernhard zunächst von seinem Verleger beglückwünscht.
Siegfried Unseld rühmte diese "neue Form Ihrer Autobiographie" und die
'faszinierende' und 'schillernde' Darstellung Paul Wittgensteins: "Ich finde auch ganz
erstaunlich, wie diese Sterbensgeschichte eingewoben ist in Ihre Lebensgeschichte und wie
dieser Sterbende Ihnen ebenso viel Kraft gibt wie Ihr 'Lebensmensch'. Alles ganz
goethisch, eine große Konfession".13
Auch die Kritik hat "Wittgensteins Neffe" überwiegend positiv aufgenommen.14
Oftmals wurde das Buch als eine Art 'Fortschreibung' von Bernhards fünf autobiografischen
Werken gelesen ("Die Ursache", 1975; "Der Keller", 1976; "Der Atem", 1978; "Die Kälte",
1981; "Ein Kind", 1982) – wobei sich zugleich zeigt, dass manche Rezensenten und
Rezensentinnen die reale Person des Autors mit dem autobiografischen Ich-Erzähler
umstandslos identifizieren. Bernhard habe seine Thematik von Lebens- und Menschenekel,
Krankheit und Todesverfallenheit und seinen Stil der Repetition auch in dieser neuen
Erzählung weitergeführt. Nur dann, wenn Kritiker diese Bernhard'sche Motivik und Rhetorik
von vornherein ablehnen, fallen negative Urteile;15
bemerkenswert daran ist, dass sie vorwiegend in der österreichischen Presse auftauchen.
In bundesdeutschen Besprechungen hingegen zeigt man sich häufig 'fasziniert' von
Bernhards obsessiven Wiederholungsstrategien. Allerdings werden gerade an "Wittgensteins
Neffe" neue Züge seines Schreibens wahrgenommen. Festgestellt wird eine unvermutete
Tendenz zur 'Heiterkeit'16, zum "sarkastischen
Humor"17, zu "makabrer Witzigkeit"18,
zu "gallbitterer Skurrilität"19, zu Groteskerie
und Bizarrerie. Gern zitiert wird in diesem Zusammenhang die 'Jagd nach der Zürcher
Zeitung' (vgl. S. 88–91)20. In besonderem Maße
richtet sich die Aufmerksamkeit aber auf das Verhältnis des Erzählers zu seinem 'Objekt',
dem 'Wiener Original' Paul Wittgenstein. Hier wird vor allem hervorgehoben, Bernhard gehe mit dem
verstorbenen Freund ganz ungewohnt behutsam und 'liebevoll'21
um. Es finde sich ein Ton von "menschlicher Wärme, Freundlichkeit und Sympathie".22
In der seinerzeit wohl einflussreichsten Kritik von Marcel Reich-Ranicki heißt es: "Nie
hat Bernhard menschenfreundlicher, nie zärtlicher geschrieben."23
Vielfach bemerkt wird, dass Thomas Bernhards Lungen- und Paul Wittgensteins 'Geistes'-Krankheit
im Text miteinander verschränkt werden, und zwar gleich eingangs auch topografisch, in der
Benachbarung von Lungenheilstätte und psychiatrischer Klinik auf dem Wilhelminenberg,
"einem Montmartre der Moribunden"24. Im Zeichen
dieser Lebenskrankheiten rufe Bernhards Darstellung eine gegenseitige Spiegelung hervor.
Im Grund sei das Buch ein "Doppelporträt"25 von
Erzähler und Figur; in ihrer Kompromisslosigkeit gegenüber der bürgerlich-philiströsen
Gesellschaft vertreten beide Bernhards Künstler-Bild. Unter diesem Aspekt kann der Text
als poetische Autoreflexion oder sogar als "Künstlernovelle"26
gelesen werden.
Kehrseite dieser Parallelisierung ist das dialektische Auseinanderfallen der Lebensläufe:
Während Bernhard seine Krankheit überwunden, ja aus ihr eine Triebfeder seiner
schriftstellerischen Karriere gemacht habe, gleiche Paul Wittgensteins Vita einer
absteigenden Linie vom begüterten Großbürgersohn über den teils bewunderten, teils
gefürchteten Exzentriker bis hin zum verarmten, verwahrlosten und an die Psychiatrie
abgegebenen "Clochard".27 In diesem Zusammenhang
zitieren die Kritiken häufig die Eingeständnisse des Erzählers, dem Sterben Paul Wittgensteins
nicht gewachsen gewesen, sondern ausgewichen zu sein, und stellen die Frage, ob die
beschriebene 'Freundschaft' als gescheitert betrachtet werden müsse.28
Der Tenor lautet dann, dass Bernhard sein Versagen geschildert, sich "schonungslose
Selbstzensuren" erteilt29 und diese
"Selbstanklage"30 literarisch vorgetragen
habe. Insofern stelle sich der Text auch als Abarbeitung einer Lebensschuld, als
"literarische Wiedergutmachung"31 dar.
Unter diesem Aspekt präsentiere er sich aber als berührende postume "Hymne an die
Freundschaft"32, als "Huldigung" und
"Nachruf"33, als "große Hommage"34,
"Grabrede"35, "Requiem"36,
"Gedenkstein"37 oder "Denkmal"38.
Honoriert wird die Ehrlichkeit des Erzählers, der auch sich selbst gegenüber keine Schonung kenne, und der seine
schriftstellerische Besessenheit von der Endlichkeit des Lebens durch die menschliche Flucht vor dem tödlichen Verfall
seines Freundes zur Diskussion gestellt habe.
Zur Edition
Der textgenetische Teil präsentiert die Digitalisate der Textträger mit den betreffenden Umschriften, in denen Tilgungen,
Ergänzungen, Korrekturen usw. markiert und dargestellt werden. Uneinheitlichkeiten im Schriftbild der Typoskripte, die lediglich
auf technische Eigenheiten der Schreibmaschine bzw. deren Handhabung zurückgehen, wie etwa die horizontale oder vertikale
Verschiebung von Anschlägen, werden in der Transkription hingegen nicht angezeigt.
Dem Drucktext zugrunde gelegt wurde die 'Ausgabe letzter Hand', also die dritte Auflage von 1983,
in der Thomas Bernhards Korrekturen der Erstausgabe berücksichtigt worden waren.
Dieser Text wird ohne weitere Herausgebereingriffe präsentiert. Abweichungen von der regulären Zeichensetzung wurden
Bernhards eigenwilligem Umgang mit Interpunktionsgepflogenheiten zugeschrieben
und daher nicht korrigiert.
Zum Kommentar
Der Kommentar widmet sich vor allem biografischen, historischen und kulturgeschichtlichen
Zusammenhängen sowie verschiedenen Kontexten innerhalb von Thomas Bernhards Werk.
Deshalb ist hier nicht nur zu unterstreichen, dass auch die Autobiografie immer
fiktional ist, schon insofern, als sie kontingente Erfahrungen zu einem Narrativ
zusammenfasst: Erinnerung ist nicht einfach der Zugriff auf einen objektiven
Gedächtnisspeicher, sondern ein Prozess der Deutung
lebensgeschichtlicher Ereignisse, zumal dann, wenn sie literarisch überformt werden.
Dazu kommen Bernhard-typische Strategien der Übertreibung, der Neukombination von
'Realitätspartikeln' und des pointierten rhetorischen Einsatzes von Wiederholungen,
die ein (möglicherweise) Gegebenes zur Gewissheit hochtreiben. Einige Abweichungen
von gesicherten Daten sind wohl auch durch schlichten Irrtum oder durch Fehlerinnerungen
zustande gekommen.
Der Kommentar soll daher weder als Bestätigung noch als Widerlegung textueller Details
gelesen werden, sondern als ein Referenzrahmen, von dem sich Bernhards Text mit all
seinen Eigenheiten als literarisches Kunstwerk abhebt.